Wie Phönix aus der Asche

1937—1962
Die ersten 25 Jahre von
Helmut J. Psotta

H.J. Psotta etwa 1955 in Gahlen am Niederrhein.
Foto: unbekannt, NL HJP 43.

von Arndt Beck

***

Hellüberflammt steht die hochaufragende Front der [Bottroper] Berufsschule vor uns. Offene Glaskandelaber werfen bläulichrot züngelnde Feuerbrände empor. Ueber den beiden Portalen liegt der rote Schein unzähliger Lampen. Und quer über die Gebäudefront zieht sich ein Transparent mit der Aufschrift: ›Es lohnt sich, für den Führer Adolf Hitler und seine Idee zu sterben!‹«[1]General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet und das westliche Münsterland – Bottroper Anzeiger, Nr. 310, 10. November 1937, S. 7.

An diesem 9. November 1937, dem ›Tag der Blutzeugen der Bewegung‹, brachte Rosa Lucia Psotta, geborene Grohs, im Bottroper Knappschaftskrankenhaus einen Jungen zur Welt. Knapp 10 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter Helga hatte sie die Schwangerschaft nicht gewollt, stellte sie doch sowohl für die fast 36-Jährige als auch für ihr Kind ein nicht unerhebliches Risiko dar. Immerhin, die Geburt hatte sie zum Glück gut überstanden und ihr zweites Kind, Helmut, sollte ihr einziger Trost in einer feindlichen Welt werden.

Helmut mit seiner Mutter Rosa Lucia Grohs (auch: Gross, Groß, Grosz) (1902—1973), ca. 1942 Foto: Foto Schweizer, Bottrop, NL HJP 43.

Denn mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war sie, die in der katholischen Herz-Jesu-Kirche ihr Seelenheil suchte, rassisch verfolgt und zur Jüdin gemacht worden.[2]So schrieb ich es im Jahr 2012, hier und im folgenden basierend auf den Angaben von H.J. Psotta. Ich habe keinen Grund an diesen zu zweifeln. Doch die jüdische Identität von Rosa Lucia Grohs kann … Continue reading Wie sie die NS-Zeit überlebte, ist nicht bekannt. Nur, daß ihr eines Tages ein Zettel einer Kundin über die Theke der Metzgerei ihres Mannes, in der sie als Verkäuferin arbeitete, gereicht wurde, mit dem sie vor der unmittelbar bevorstehenden Verhaftung gewarnt wurde. Fluchtartig verließ sie mit ihrem Sohn Bottrop. Ihr eigener Mann hatte offenbar die Verhaftung veranlaßt. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Rosa Psotta in Konzentrationslager oder Gefängnis war – aber die bedrohlichen allgemeinen Verhältnisse und ihr gewalttätiger Mann waren Zumutung genug. Ihre psychische Beschädigung fand nicht nur darin Ausdruck, daß sie auch nach dem Ende des Dritten Reichs weiterhin mit ihm bis an ihr Lebensende zusammenlebte, sondern auch in einem – von Helmut Psotta miterlebten und gut erinnerten – Zickzack-Gehen. Ständig wechselte sie die Straßenseite, wenn ihr Passanten entgegen kamen, die sie aus der NS-Zeit in unliebsamer Erinnerung hatte. Ihr Sohn fand sie häufig weinend und betend in der Seitenkapelle der Herz-Jesu-Kirche oder entrückt auf einer Bank am Hauptbahnhof sitzen.

Die Eltern und Verwandten von Rosa Grohs sowie die ihres Mannes – des Metzgermeisters Julius Psotta – stammen überwiegend aus der Gegend um die oberschlesische Stadt Rybnik. Etwa 1889 waren sie in das Ruhrgebiet eingewandert. Hier arbeiteten sie meist als Viehändler, Bergarbeiter und Kleingewerbetreibende. Während die Eltern von Rosa Grohs einem jüdischen, polnisch-jiddischsprachigen Milieu zugehören, sind die Eltern von Julius Psotta katholisch.[3]Laut des Lebensberichts von H.J. Psottas Großmutter väterlicherseits, Paula Janczyk, 1875 geboren in Rybnik (NL HJP 00), wanderten ihre Eltern 1880 in das Ruhrgebiet ein. Ihren Mann, Julius Psotta … Continue reading

Rosa Grohs machte eine Ausbildung in einer Bottroper Apotheke[4]Davon existieren Fotos; das Standesamt bezeichnet sie bei ihrer Hochzeit 1928 als »ohne Beruf«. und war in ihrer Jugend mit dem Maler Josef Albers[5]Der Künstler Josef Albers (1888—1976) stand in Kontakt mit der Pontificia Universidad Católica (PUC) in Santiago de Chile, hatte dort Kurse gegeben, mit der Gründung der Kunstabteilung der … Continue reading bekannt. Die Ehe mit ihrem Mann ging sie – so scheint es – nicht freiwillig ein.

Mit dem Metzgergewerbe war Julius Psotta, dem Vater von Helmut, ein Beruf zugefallen, der ihm und seiner Familie ein bescheidenes aber nicht ärmliches Auskommen bereitete. Sicher auch aus wirtschaftlichen Interessen war er 1937 in die NSDAP eingetreten.[6]Bundesarchiv (BArch) 3200 (ehem. Berlin Document Center) (BDC), Psotta, Julius, 19. November 1899, Aufnahmedatum: 1. Mai 1937, Mitgliedsnummer: 5410634. So konnte er sich beispielsweise Hausangestellte leisten, zu denen auch zeitweise eine Zwangsarbeiterin gehörte. Außerdem ließ er sich auf dem Grundstück seines Hauses von Zwangsarbeitern einen Privatbunker bauen.

Helmuts erste Lebensjahre sind von schweren Krankheiten geprägt. Gleich nach der Geburt ließen die Ärzte alle Hoffnungen fahren, so daß sich sein Vater genötigt sah, ihn aus dem Krankenhaus zu ›entführen‹. Es ist das einzige Gute, was er in seinem Leben für ihn tun sollte. Zuhause wurde Helmut von dem jüdischen Arzt Tausendfreund[7]Erinnerung von H.J. Psotta – in Bottrop konnte eine Praxis nicht nachgewiesen werden. gepflegt, der später vermutlich deportiert und ermordet wurde.

Die meiste Zeit seiner ersten Jahre wird Helmut Psotta in Bottrop verbracht haben. Er erinnert sich an Bombennächte im Bunker, die brennende Stadt und an sein Kindermädchen Anna, wohl eine ukrainische Zwangsarbeiterin, die ihm Wiegenlieder vorsang und – das erzählte ihm seine Schwester sehr viel später – auf dem Hof seines Elternhauses erschossen wurde. Elisabeth Emschermann, eine Lehrerin, brachte dem häufig bettlägrigen, gerade vierjährigen Jungen mit Hilfe eines Lesebuchs aus der Weimarer Republik (›Hort und Habe‹) lesen und schreiben bei – noch ehe er richtig Laufen lernte. Doch ebenso erinnert er sich an Krankenhausaufenthalte, die Flucht mit seiner Mutter, an das blaue Licht im Zug, an ein Tal – vermutlich in Süddeutschland –, wo er bei einem Nationalsozialisten (oder einem, der sich als solcher tarnte) namens Brandner für einige Zeit untergebracht war.

Frühe Zeichnung H.J. Psottas vom Hof des Elternhauses in Bottrop, Frühjahr 1953. Tagebuch, NL HJP 44.

Fast symptomatisch endet mit dem Dritten Reich auch die Krankengeschichte von Helmut. Zur Genesung verbringt er einige Zeit bei katholischen Nonnen (Ursulinen) im westfälischen Werl und bei Freund*innen in Den Haag. Er erlernt die niederländische Sprache. Die Ermahnung, daß er dort kein Deutsch sprechen solle, erweist sich bei dem Versuch, ihn in Bottrop einzuschulen, als Bumerang. Auf die Fragen des Lehrpersonals antwortete er nicht oder auf Niederländisch. Keine Schule möchte ihn aufnehmen. Als er dann doch endlich eine Schule findet, ist er seinen Mitschülern um Längen überlegen. Das Mißverhältnis zur Welt wird ihm zur Selbstverständlichkeit. An dieser Schule macht er auch sehr unangenehme Erfahrungen. Als er dorthin einmal mit neuen Schuhen kommt, treten seine Klassenkameraden – begleitet von antisemitischen Beschimpfungen – darauf herum. Wenig später erscheint seine couragierte Mutter im Unterricht und ohrfeigt den Lehrer, der dem Treiben keinen Einhalt geboten hatte, vor versammelter Klasse.

Einmal findet Helmut ein langes Fahnentuch auf dem Speicher des Hauses, das er zu einer katholisch inspirierten Prozession durch Bottrop nutzt. Das eine Ende bindet er sich über die Schulter, so daß er das lange Tuch als Schleppe hinter sich herzieht. Singend und segnend wird er von einer Schar Hühner begleitet, die er mit gelegentlich aus der Hand gleitenden Maiskörnern besticht. Irgendwann wird dieser merkwürdige Heilige freundlich von einem britischen Soldaten gestoppt und nach Hause begleitet. Seine Schleppe war die Hakenkreuzfahne seines Vaters.

Erste Performances mit Tauben in Bottrop. Foto: unbekannt, NL HJP 43.

Tagebucheintrag vom 28. Dezember 1952.
NL HJP 44.

Während die Mutter für ihr Kind nur das Beste möchte, auf dem Schwarzmarkt eine Geige gegen ein Stück Fleisch eintauscht und ebenso für Musikunterricht sorgt, der bei ihm auf fruchtbarsten Boden fällt, zwingt der Vater den körperlich schwachen Jungen im elterlichen Betrieb zu arbeiten. Abends kommt er häufig betrunken nach Hause, schlägt seine Frau, will die Geige zertrümmern. Alle künstlerische Ambition, die die Mutter nach Kräften fördert, stachelt nur die aggressive Abwehr des Vaters an.[8]In einem Tagebucheintrag vom 28. Dezember 1952 gibt Helmut Psotta ein eindrückliches Bild von den häuslichen Zuständen: »Plötzlich ist er da! Mutter und ich wollen mit dem Wagen eine Tour … Continue reading

1949 wechselt Helmut Psotta auf die Bottroper Realschule. Mit seinem Deutschlehrer Leo Kluge findet er einen wichtigen Förderer, der ihn mit Literatur aus der Lehrerbibliothek versorgt und seine Schulaufsätze nach völlig eigenen Maßstäben bewertet. Kleinste Fehler führen zu erheblichen Abwertungen, was seinen ehrgeizigen Schüler dazu erzieht, möglichst keine Fehler mehr zu machen. Aber er fordert seinen Lehrer auch heraus. So verfasst er etwa Aufsätze in unterschiedlichen Handschriften, so daß sein Lehrer aufhört, seine Schrift zu bewerten. Leo Kluge sorgt auch dafür, daß einige seiner Stimmungsaufsätze in der Bottroper Volkszeitung erscheinen.

H.J. Psotta, Zeichnung seines Lehrers Leo Kluge im Tagebuch, Frühjahr 1953. NL HJP 44
H.J. Psotta, Zeichnung seines Lehrers Leo Kluge im Tagebuch, Frühjahr 1953. NL HJP 44

Joseph Binder, H.J. Psotta beim Geigenspiel, frühe 1950er Jahre. NL HJP.

Sein erstes Geld verdient Helmut Psotta damit, daß er von den Knochenabfällen der Metzgerei die Fleischreste kratzt und als Hundefutter verkauft. Davon kauft er sich Geigensaiten, Noten, Farbstifte und seine ersten Reclam-Hefte, die er stets vor dem Vater verstecken muß.

H.J. Psotta zeichnet, dichtet, fotografiert, gestaltet das Schaufenster der heimischen Metzgerei (besonders zum Fronleichnamsfest), vor allem aber macht er Musik: er wird Mitglied im Collegium Musicum, das in wechselnden (kammer)musikalischen Besetzungen auftritt, gründet das gleichnamige Streichquartett, singt als Knabensopran in den Gottesdiensten der Herz-Jesu-Kirche und spielt im benachbarten katholischen Waisenhaus zur Frühmesse die Orgel. Zu dieser Zeit lernt er auch die in Berlin geborene Gahlener Organistin Ruth Johow kennen, die – neben seiner Mutter – zur wichtigsten Person in seinem Leben werden soll. Mit ihr nimmt auch ein gebildetes und selbstbewußtes Berliner Bürgertum Einfluß auf H.J. Psotta.[9]Ruth Johow (1905—1991) war außerdem die Tochter des Architekten Wilhelm Johow. Sie hatte auch einige Kontakte in Künstlerkreise und war beispielsweise mit dem Schauspieler Tancred Friedrichs und … Continue reading

Ruth Johow mit ihrem Vater Wilhelm Johow, um 1955. Foto: unbekannt NL HJP.
Ruth Johow mit ihrem Vater Wilhelm Johow, um 1955. Foto: vermutl. Titsche + Friederichs Düsseldorf, NL HJP 34/05.

H.J. Psotta verfügt über ein außergewöhnliches Selbstbewußtsein und hat keinerlei Scheu, große Namen anzusprechen. So trägt er etwa in Den Haag, wohin er nach wie vor regelmäßig reist, dem Vortragskünstler Albert Vogel jr. Schillers Leicester-Monolog aus Maria Stuart vor, der ihm daraufhin ein Gutachten ausstellt: Vogel schreibt, daß er bei ihm viel Veranlagung feststellen könne, »und eine dramatische Bewegtheit, welche durch weiteres Studium größere Beherrschung gewinnen wird. Auch die Diktion könnte dabei noch an Kraft und Plastik wachsen. Im ganzen war es mir eine große Freude, ihm zuzuhören.[10]Datiert auf den 5. September 1954, Abschrift in NL HJP. Gleiches geschieht mit dem niederländischen Kabarettisten Franklin, der ihm eine »große Zukunft als Dramaturg«[11]Undatiert, Abschrift in NL HJP. prophezeit. Und der Gelsenkirchener Intendant Hermann Bauermeister, bescheinigt ihm »eine Gefühlsintensität, die auf ein tieferes Innenleben schließen läßt und bereits Ansätze zu einer überzeugenden mimischen Ausdrucksfähigkeit zeigt, offenbar getragen von einer Begeisterungsfähigkeit, die mehr zu sein scheint als jugendliches Strohfeuer, und unterstützt von einem lebhaften Geist. […] Ich halte ihn mit einem Wort für so begabt, daß ich verantworten zu können glaube, ihm zu seiner Berufswahl zuzuraten, umsomehr als seine äußere Erscheinung damit im Einklang steht.«[12]Datiert auf den 18. September 1954, Abschrift in NL HJP.

Ein bereits zugesagtes Vorsprechen beim Düsseldorfer Intendanten Gustaf Gründgens scheitert am Boykott des Vaters. Aber H.J. Psottas Entschluß steht fest: er möchte Schauspieler werden, besser noch Dramaturg.

H.J. Psotta im Alter von 18 oder gerade 19 Jahren. Foto: unbekannt, NL HJP 43.
Schauspieler, besser noch Dramaturg: H.J. Psotta im Alter von 18 oder gerade 19 Jahren. Foto: unbekannt, NL HJP 43.

H.J. Psotta, Gewitter, Öl auf Papier, 48 x 67 cm, um 1957, NL HJP

Doch es kommt anders. Gegen den Willen seines Vaters kann der 17-Jährige seinen Berufswunsch nicht durchsetzen. Seine Volljährigkeit mit 21 ist noch Lichtjahre entfernt. Unter dem Druck des Arbeitsamtes gibt der Vater aber die Zustimmung zur Bewerbung zum Studium der Malerei an der Folkwang-Werkkunstschule in Essen. H.J. Psotta scheitert an der Aufnahmeprüfung. So beginnt er, gleich nachdem er im Jahr 1955 die Schule mit dem Abschluß der Mittleren Reife verläßt, eine Lehre beim Glasmalermeister Emil Peters[13]Emil Peters (1912—1999) machte eine Lehre als Glasmaler im elterlichen Betrieb in Paderborn und studierte anschließend u.a. bei Dominikus Böhm. Nach dem Tode seines Vaters im Jahr 1935 übernahm … Continue reading in Bottrop und Paderborn, gegen die auch der Vater nichts einwenden kann.

Emil Peters läßt dem Mehrfachbegabten während seiner Lehre allerlei Freiheiten, so daß dieser – parallel zur handwerklichen Ausbildung – neben seinen sowieso schon reichlichen künstlerischen Aktivitäten, Abendkurse an der Folkwang-Werkkunstschule in Essen belegen kann. Diese hält H.J. Psotta später für seine lehrreichste Zeit. Unter anderem besucht er Kurse bei Jo Pieper[14]Jo Pieper (1893—1971) lebte seit 1922 als freischaffender Maler und Grafiker in Essen. Häufig benutzten er und H.J. Psotta nach dem Unterricht dieselbe Straßenbahn, wo Pieper seinem faszinierten … Continue reading (figürliche Malerei) und Josef Urbach[15]Josef Urbach (1889—1973) lehrte seit 1923 als Professor an der Essener Folkwangschule. Während der NS-Zeit galten einige seiner Werke als „entartet“. Bei einem Bombenangriff im Jahr 1943 wurde … Continue reading (Akt). Er nimmt an einer ersten Ausstellung teil, zur neu gegründeten Zeitschrift der Berufsschule in Bottrop steuert er Zeichnungen bei und malt Hinterglas-Silhouetten vor allem von prominenten Schauspielern, Musikern und Schriftstellern, die Gastauftritte in der Stadt haben. Diese Silhouetten werden 1956 in die Gestaltung des Lichthofs der Berufsschule integriert und sollten dort viele Jahre hängen.[16]Heute sind diese Arbeiten verschollen. Vermutlich wurden sie bei einer Umgestaltung des Lichthofs zerstört.

Das letzte Überbleibsel der Hinterglassilhouetten, von denen H.J. Psotta zahlreiche anfertigte: Foto einer (unbekannten) Silhouette, 1954. NL HJP 34/02.
Das letzte Überbleibsel der Hinterglassilhouetten, von denen H.J. Psotta zahlreiche anfertigte: Foto einer (unbekannten) Silhouette, 1954. NL HJP 34/02.

Für das Triptychon ›Die Passion Christi‹[17]Der Verbleib des Werks ist unbekannt. erhält er 1957 den Jugend-Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Seine große Begabung findet mehr und mehr Anerkennung.

1957/58 beendet er seine Lehrzeit als Glasmaler und beginnt nun ein reguläres Studium der Angewandten Malerei an der Folkwangschule für Gestaltung. Zu den wenigen Lehrern, die er aus dieser Zeit in positiver Erinnerung behält, gehört der Bauhaus-Künstler Max Burchartz.[18]Max Burchartz (1887—1961) gehörte in den frühen Jahren der Weimarer Republik der künstlerischen Avantgarde an, gründete dann eine moderne Werbeagentur und arbeitete fortan vorwiegend als … Continue reading Zudem hört er kunstphilosophische Vorlesungen bei Heinrich Lützeler[19]Heinrich Lützeler (1902—1988) gilt als deutscher Hauptvertreter des Renouveau catholique. Er war entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Schon im Jahr 1931 geriet er in eine Kontroverse um … Continue reading, dessen fundierte aber populäre Art und Weise der Vermittlung ihn begeistert. Psottas Interesse gilt jetzt mehr der Kunstgeschichte, -wissenschaft und -didaktik. Außerdem hält er selbst Vorträge, beispielsweise mit Programmen über den Dichter Börries von Münchhausen[20]Börries von Münchhausen (1874—1945) war um die Jahrhundertwende bis in die Weimarer Republik hinein ein berühmter Balladendichter, der sowohl in der zionistischen als auch in der Jugendbewegung … Continue reading und Grimms Märchen. Sein freier Geist und seine ›entartete‹ Kunstauffassung geraten aber bald in Konflikt mit einem Lehrpersonal, welches zu einem ganz überwiegenden Teil aus der NS-Zeit übernommen wurde.[21]Zum Lehrpersonal der Essener Folkwangschule gehörte beispielsweise der Bildhauer Adolf Wamper. H.J. Psotta lernte ihn nur am Rande seiner Ausbildung kennen. Als er kurz nach Erscheinen des Buchs … Continue reading

Er wird relegiert, erfährt davon vorab aber dank einer Sekretärin, so daß er einen Großteil seiner Bilder, die die Zimmer der Dozenten schmücken, abhängen, ausrahmen und wieder in seinen Besitz bringen kann, darunter ›Die verletzten Glaskönige‹.

H.J. Psotta, Die verletzten Glaskönige, David und Jonathan, Tempera auf Papier, 48 x 68 cm, 1959. NL HJP
H.J. Psotta, Die verletzten Glaskönige, David und Jonathan, Tempera auf Papier, 48 x 68 cm, 1959. NL HJP

Die verletzten Glaskönige entstanden nach einer Erfahrung, die H.J. Psotta während seiner Lehrzeit als Glasmaler machte und zu der er sich am Ende seines Lebens so äußerte:

Ich kam in direkten Kontakt mit den restaurierten Resten einer kriegszerstörten (neo-)gotischen Glasmalerei mit figürlichen Motiven und versuchte später ihre ursprüngliche Kraft nachzuempfinden, indem ich die zerstörten Details als Teile eines scheinbar neuen, aber tragischen Ganzen, wie Verletzungsspuren in die Originale Gesamtgestaltung zu integrieren.

H.J. Psotta über Die verletzten Glaskönige, Notiz, 2012

H.J. Psotta, Der Thron des Königs Salomo, Aquarell auf Seide, 37 x 46 cm, 1959/60, NL HJP

Seine Zukunft ist völlig offen. Bewerbungen an anderen Kunsthochschulen scheitern grundlos. Zudem wird ihm die häusliche Gewalt seines Vaters zunehmend unerträglicher. Einen Ausweg aus seiner Not eröffnet ihm Ruth Johow. Sie bietet dem 21-Jährigen mehrfach an bei ihr zu wohnen und richtet ihm, nachdem er das Angebot annimmt, einen Raum in ihrem Haus in Gahlen her, wo sie mit ihrer Schwester und ihrem Vater, dem Berliner Architekten Wilhelm Johow, lebt – H.J. Psottas erstes Atelier.[22]Die Mutter von Ruth Johow war kurz zuvor verstorben.

Das Haus der Johows in Gahlen. Über Eingang und Garage: das Atelier von H.J. Psotta, um 1960. Foto: unbekannt, NL HJP 32/10.
Das Haus der Johows in Gahlen. Über Eingang und Garage: das Atelier von H.J. Psotta, um 1960. Foto: unbekannt, NL HJP 32/10.

Er arbeitet nun als freier Künstler, sein Aquarell-Zyklus ›Seidenbilder‹ entsteht, außerdem das ›Drei-Künste-Fenster‹, welches er im Auftrag eines Dorstener Buchhändlers entwirft. Gemeinsam mit Ruth Johow besucht er nun viele Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen. Seine größten malerischen Vorbilder sind zu dieser Zeit Georges Rouault und Werner Gilles. Durch einen Zufall erfährt er, daß die Hallenser Metallgestalterin Lili Schultz[23]Lili Schultz (1895—1970) war 1958 von der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt. Zuvor hatte sie seit 1925 an der Burg Giebichenstein in Halle gelehrt. Als H.J. Psotta um die Jahrtausendwende … Continue reading aus der DDR nach Düsseldorf übergesiedelt ist und nun an der dortigen Peter-Behrens-Werkkunstschule lehrt. Er weiß sofort: bei ihr möchte er arbeiten. Er fährt nach Düsseldorf und wartet auf den Treppenstufen ihres Hauses auf sie. Beeindruckt von der Willenskraft und der Überzeugungsgabe Psottas nimmt Schultz ihn in ihre Metallgestaltungsklasse auf. Größten Eifer verwendet Psotta nun auf das technische Erlernen und die Gestaltung vor allem von Emailbildern. Wie beeindruckt Lili Schultz von ihrem Schüler ist, dokumentiert sie einige Jahre später in einem Brief, in dem sie der Düsseldorfer Werkkunstschule H.J. Psotta als Professor empfiehlt. Sie schreibt nicht nur, daß »Psotta mein bester Schüler war«, sondern gerät geradezu ins Schwärmen: »Er ist Maler! Glasmaler! Holzschnitte kenne ich von ihm, gute Schrift, ausgezeichnete Teppiche. Was er beginnt, erfasst er ganz und vollendet sein fülliges Wesen in jedem Tun! Er ist eine ›Naturbegabung‹. Wie in seiner Musik die Kraft eines Naturwesens steckt, wie bei einem Zigeuner, dem es im Blut steckt, so ist es mit jedem Beginnen von ihm. Er verzehrt sich in den Gluten seiner Arbeiten und ist voll größter Ausstrahlung auf seine Schüler.«[24]Brief von Lili Schultz an den Direktor der Peter-Behrens-Werkkunstschule, Hans-Georg Lenzen vom 19. September 1968, Archiv HJP. Woher der „rassische“ Wortgebrauch stammt, erklärt wohl … Continue reading Lili Schultz ist es auch, die ihn ›zwingt‹ an einem internationalen Wettbewerb um den Entwurf der monumentalen Glasmalereien für die neu zu erbauende Kirche ›El Verbo Divino‹ in Santiago de Chile teilzunehmen. H.J. Psotta macht sich ans Werk. Innerhalb weniger Wochen vollendet er seinen sechsteiligen Entwurf samt ausführlicher Beschreibung und schickt ihn im März 1961 auf die Reise in die Neue Welt. Trotz einflußreicher Fürsprecher kann er sich nicht durchsetzen.[25]Die ursprüngliche Fassung behauptete, dass H.J. Psotta den Wettbewerb gewann. Dies war die von H.J. Psotta selbst kolportierte Version, die aber falsch ist. Siehe auf dieser Website: El Verbo Divino. Es gewinnt der österreichisch-peruanische Künstler Adolfo Winternitz[26]Adolfo Winternitz (1906-1993) stammte aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Wien. 1938 konvertierte er zum Katholizismus. 1939 emigrierte er nach Lima und wurde wenig später Gründer und … Continue reading – Psotta wird ihm viel später an anderem Ort noch einmal begegnen.

H.J. Psotta: El Verbo Divino, Gesamtansicht des Entwurfs, Tempera auf Karton, ca. 200 x 120 cm, 1960/61
H.J. Psotta: El Verbo Divino, Gesamtansicht der sechs Entwürfe, Tempera auf Karton, ca. 200 x 120 cm, Januar/Februar 1961

H.J. Psotta: El Verbo Divino, Gesamtansicht der sechs Entwürfe, Tempera auf Karton, ca. 200 x 120 cm, Januar/Februar 1961, NL HJP

Doch es ist wie im Traum: beeindruckt von der Reife seiner Arbeit möchte die bedeutende Pontificia Universidad Católica in Santiago de Chile ihn mit Gründung und Leitung des Instituts für Gestaltung (anfangs Sakralkunst) an ihrer Architekturfakultät beauftragen.[27]Auch diese auf den Angaben H.J. Psottas basierende Darstellung ist nicht ganz richtig. H.J. Psotta bemühte sich selbst, eine Möglichkeit der Lehre in Chile zu erhalten. Eine in Chile lebende … Continue reading Er zögert keinen Augenblick. In einem Zeitungsartikel kurz vor seiner Abreise bemerkt er lakonisch: »Diese erregende künstlerische Aufgabe wird mich ganz in Anspruch nehmen. Darum fällt mir der Abschied von der Heimat auch nicht schwer.«[28]Neue Ruhr-Zeitung, Ausgabe Kreis Dinslaken, Nr. 269, 17. November 1962, S. 9.

Neue Ruhr-Zeitung, Dinslaken, Nr. 269, 17. November 1962, S. 9
Neue Ruhr-Zeitung, Dinslaken, Nr. 269, 17. November 1962, S. 9

In einem nicht namentlich ausgewiesenen Aufsatz der Bottroper Volkszeitung, der möglicherweise von seinem ehemaligen Deutschlehrer Leo Kluge stammt und stolz in der Überschrift verkündet »Bottroper Realschüler wurde Professor in Chile«, gibt der Verfasser einen Eindruck von dem Haus in Gahlen und der Verwandlung seit Psottas Dortsein: »Die Vielfalt der technischen Ausdrucksmittel wird im Atelier der oberen Räume augenscheinlich. Schier unübersehbar die Materialien, Rohstoffe, Werkzeuge, Utensilien und Farben. In den unteren Räumen zeugt die Fülle der Gemälde an den Wänden von der enormen schöpferischen Tätigkeit des Künstlers. Eine ständig wechselnde Ausstellung jüngst vollendeter Arbeiten. Aber auch frühere Studien fallen auf. Neben kräftigen Farbgebungen und fein empfundenen Stimmungen, neben herben Konturen und verfließender Zartheit in den Gemälden sieht man strenge Holzschnitt-Techniken, graphische Exaktheiten, leuchtende Unterglas- und Emailmalereien. Seine Phantasie bedient sich ständig wandelnder persönlicher Stilformen. Da sind naturalistische und farbtonstufige Übungen. Formerfindungen vergeistigter Gegenständlichkeit und abstrakte Aussagen. Immer sind seine Motive geistig-seelischen Bezirken verhaftet. Erst von hier aus erschließt sich das Hintergründige dem Betrachter. Kein Wunder, wenn die Umwelt im Bilde nur noch als tiefempfundenes ›Zeichen‹ zum Ausdruck kommt. Mit Hingabe wendet er sich dem Themenkreis religiösen Geistes zu. Durch die Ursprünglichkeit seiner sensiblen Einfühlung in den sakralen Raum gelingen ihm Lösungen von großartiger Geschlossenheit und erregender Farbgebung.«[29]Bottroper Volkszeitung, Nr. 10, 12./13. Januar 1963, S. 11. Vor seiner Abreise möchte er bei einem Aufenthalt in Barcelona die – vertraglich vereinbarten – Grundlagen der spanischen Sprache erlernen. Der Unterricht langweilt ihn, er verbringt seine Zeit lieber schreibend und zeichnend in den dortigen Museen und Straßen.

Postkarte von der Ludwigshafen, gesendet vom Schiff an Ruth Johow, Dezember 1962. NL HJP
Postkarte von der Ludwigshafen, gesendet vom Schiff an Ruth Johow, Dezember 1962. NL HJP

Am 1. Dezember 1962 besteigt der gerade 25-Jährige – im Gepäck sein gesamtes Hab und Gut – in Bremerhaven ein Schiff der Hapag Lloyd mit dem Ziel Chile. Am 5. Januar 1963 läuft es im Hafen von Valparaiso ein. Ein Empfangskomitee um den Architekten und Dekan Sergio Larraín[30]Sergio Larraín Garcia Moreno (1905—1999) studierte Architektur in Santiago de Chile, reiste nach Europa und nahm Kontakt zum Bauhaus in Weimar (Klee, Kandinsky, Albers) und u.a. zu den Architekten … Continue reading bereitet ihm einen großen Empfang. Er wird zum Abendessen in dessen Haus geladen. Anschließend bringt man ihn zu einem Benedektiner-Kloster in Las Condes, unweit von Santiago, welches H.J. Psotta sich als vorläufige Unterkunft gewünscht hatte. Als er in seine Zelle kommt, stehen um das Bett seine Fensterentwürfe und das kleine Zellenfenster gibt den Blick frei auf das gigantische Andengebirge. In dieser unendlichen Einsamkeit wird H.J. Psotta von seinen Gefühlen überwältigt und bricht in lang andauerndes Weinen aus.[31]Dies ist eine Verdichtung, die sich nicht ganz so zugetragen hat, da ein Brief davon berichtet, daß H.J. Psotta seine Entwürfe erst einige Tage nach seiner Ankunft zu Gesicht bekam. Ob seine … Continue reading Die Mönche stellen ihm für die kommenden Wochen einen jungen Mann namens Jesús als Begleiter zur Seite, der ihm bei seinen Erkundungen durch die Labyrinthe der Millionenstadt Santiago führt – von ihm lernt er auch die ersten zusammenhängenden spanischen Sätze sprechen. Das trostlose Nachkriegsdeutschland liegt hinter ihm – das Abenteuer Chile beginnt.

Panoramafoto von Santiago de Chile, einem Brief an Ruth Johow beigelegt, Anfang 1963, NL HJP

[geschrieben 2012, veröffentlicht in: Helmut J. Psotta, Radikale Poesie Frühe Arbeiten 1954—1962, Berlin 2013, S. 8–15; hier leicht verbessert und neu bebildert, September 2021/Tishrei 5782]

[21/09/07]

Anmerkungen

Anmerkungen
1 General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet und das westliche Münsterland – Bottroper Anzeiger, Nr. 310, 10. November 1937, S. 7.
2 So schrieb ich es im Jahr 2012, hier und im folgenden basierend auf den Angaben von H.J. Psotta. Ich habe keinen Grund an diesen zu zweifeln. Doch die jüdische Identität von Rosa Lucia Grohs kann bisher mit einem Dokument nicht belegt werden. Das bisher eindrücklichste Dokument ist eine Fotografie Rosa Psottas mit der rückseitigen Beschriftung: »Das ›erste Lächeln‹ nach grossem Leid. ›Heimatlos‹ 1942«. NL HJP 34/07 (6/2021, A.B.).
3 Laut des Lebensberichts von H.J. Psottas Großmutter väterlicherseits, Paula Janczyk, 1875 geboren in Rybnik (NL HJP 00), wanderten ihre Eltern 1880 in das Ruhrgebiet ein. Ihren Mann, Julius Psotta sen., geboren 1870 in Ratibor, lernte sie erst im Ruhrgebiet kennen. Vom mütterlichen Zweig der Familie ist wenig bekannt. Eduard Grohs, 1857 in Puschwitz, Kreis Rybnik geboren, sowie Hedwig Lanczyk, 1861 in Loslau (Wodzisław Śląski), Kreis Rybnik, Provinz Schlesien geboren – die Großeltern von H.J. Psotta – sind als Neuankömmlinge am 14. November 1889 im Bottroper Einwandererverzeichnis vermerkt – als Katholik*innen.
4 Davon existieren Fotos; das Standesamt bezeichnet sie bei ihrer Hochzeit 1928 als »ohne Beruf«.
5 Der Künstler Josef Albers (1888—1976) stand in Kontakt mit der Pontificia Universidad Católica (PUC) in Santiago de Chile, hatte dort Kurse gegeben, mit der Gründung der Kunstabteilung der Architekturfakultät hatte er – anders als es in der ursprünglichen Fassung im Katalog hieß – nichts zu tun. H.J. Psotta hat Josef Albers – insbesondere als Pädagoge – sehr geschätzt. So bezieht er sich in einer Veröffentlichung der Jan van Eyck Academie Maastricht (H.J. Psotta: Über den schöpferischen Visualisierungs-Prozess als Erkenntnisprinzip, Faltblatt, Maastricht, undatiert [ca. 1975]) ausdrücklich auf die Gestaltungstheorien von Albers (und Max Burchartz). Bei einem Vortrag im April 1976 am Ubbu Emmius Institut Groningen bezeichnet er ihn als seinen “Protegé und Mentor”. Persönlich haben sie sich aber meines Wissens nach nicht gekannt.
6 Bundesarchiv (BArch) 3200 (ehem. Berlin Document Center) (BDC), Psotta, Julius, 19. November 1899, Aufnahmedatum: 1. Mai 1937, Mitgliedsnummer: 5410634.
7 Erinnerung von H.J. Psotta – in Bottrop konnte eine Praxis nicht nachgewiesen werden.
8 In einem Tagebucheintrag vom 28. Dezember 1952 gibt Helmut Psotta ein eindrückliches Bild von den häuslichen Zuständen: »Plötzlich ist er da! Mutter und ich wollen mit dem Wagen eine Tour unternehmen, Vater will die Fußballübertragung im Radio hören. Worte fliegen hin und her! ›Du gönnst mir nie etwas‹, oder: ›Zum Arbeiten bin ich gut genug‹, und, – dann fliegen die ersten Stühle durch die Luft. Geschehnisse, zwanzig Jahre alt, werden wieder neu aufgerüttelt, Vater wird vor Zorn rot, läuft mit erhobener Faust hinter Mutter her, und diese flüchtet sich in den Keller. Es geht alles zu schnell. Ich stehe oben schweißgebadet an der Tür und lausche. Ich denke an einen Traum, den Mutter heute morgen hatte. Es war ein furchtbarer Traum. Da, – ein Schrei! Ein angstzerissener Schrei meiner Mutter. Ich weiß heute noch nicht, wie schnell ich die Treppe hinunterfliegen konnte. – In der Wurstküche stand mein Vater, presste sie gewaltig an die Wand, und, – Gott strafe mich, wenn ich lüge, – würgte sie. Du mußt helfen, flüsterte eine innerliche Stimme. Ja! Aber wie? Im guten Ton ging es nicht mehr. – Meine Mutter wird immer bleicher. Arme, arme Mutter! Wie oft hast Du dies schon erdulden müssen! Ihre unglücklichen Schreie werden durch den harten Griff am Halse erstickt. Und wie ich in das Gesicht meines Vaters schaue, meine ich, – Gott vergebe es mir, – in die Fratze des Teufels zu sehen. Herr, geb` mir nur einmal Kraft, bete ich wie Samson. Ich war wegen meiner Schwachheit berühmt. Dagegen mein Vater verfügte über übermenschliche Kräfte. Ich stürze mich auf ihn, reiße die klobigen Mörderfinger vom Halse der Mutter los, und, – das Unglaubliche geschieht, – schleudere meinen Vater vier Meter weit auf die Erde! Was weiter geschah? Ich hörte nichts mehr. Nichts mehr? Tief in meiner Seele stehen die Worte noch, die mein Vater damals sagte: ›Ich habe schon mit fünfzig Frauen im Bett gelegen.‹ – Und über diesem Bett hängt ein Kreuz. Pfui!«

Tagebuch, Eintrag vom 28. Dezember 1952, NL HJP 44.

9 Ruth Johow (1905—1991) war außerdem die Tochter des Architekten Wilhelm Johow. Sie hatte auch einige Kontakte in Künstlerkreise und war beispielsweise mit dem Schauspieler Tancred Friedrichs und dem Bildhauer Karl Ehlers befreundet.

Wilhelm Johow (1874—1960) baute neben Schulen und Krankenhäusern als sein wichtigstes Gebäude in Berlin das Pankower Rathaus (Einweihung 1903). Im Ersten Weltkrieg erlitt er eine Kriegsneurose, von der er sich nicht wieder erholte. Da er nicht mehr fähig war, sein Architektenbüro zu leiten, vermittelte sein Bruder ihm eine Tätigkeit im Bergbau in Buer (heute Stadtteil von Gelsenkirchen). Er baute sich in Gahlen am Niederrhein seinen Alterswohnsitz, wo er bis an sein Lebensende lebte.

Nach: Udo Müller, Uwe Rittner, Ein Haus wird 100 – Rathaus Berlin-Pankow 1903-2003, Berlin 2003, S. 33 und Arwed Steinhausen, Dieter Geisthardt, Hans Klockmann, Rathaus Pankow 1903-1993, Berlin 1993, S. 13f.

10 Datiert auf den 5. September 1954, Abschrift in NL HJP.
11 Undatiert, Abschrift in NL HJP.
12 Datiert auf den 18. September 1954, Abschrift in NL HJP.
13 Emil Peters (1912—1999) machte eine Lehre als Glasmaler im elterlichen Betrieb in Paderborn und studierte anschließend u.a. bei Dominikus Böhm. Nach dem Tode seines Vaters im Jahr 1935 übernahm er die Leitung der Werkstatt bis 1980. 1952 wurde in Bottrop eine Filiale eingerichtet, wo H.J. Psotta den Großteil seiner Lehrzeit absolvierte.

Auskunft der Glasmalerei Peters.

14 Jo Pieper (1893—1971) lebte seit 1922 als freischaffender Maler und Grafiker in Essen. Häufig benutzten er und H.J. Psotta nach dem Unterricht dieselbe Straßenbahn, wo Pieper seinem faszinierten Schüler vom Leben unter Sinti und Roma erzählte, die auch ein Hauptmotiv seiner Malerei waren.

Zu Pieper siehe: Jo Pieper, Ölbilder, Aquarelle, Monotypien, Lithographien, Zeichnungen, Essen o.J [1962].

15 Josef Urbach (1889—1973) lehrte seit 1923 als Professor an der Essener Folkwangschule. Während der NS-Zeit galten einige seiner Werke als „entartet“. Bei einem Bombenangriff im Jahr 1943 wurde sein Atelier getroffen und fast sein gesamtes Werk zerstört.

Nach: Städtisches Clemens-Sels-Museum Neuss (Hg.), Josef Urbach 1889-1973 – Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag, Neuss 1989, S. 7.

16 Heute sind diese Arbeiten verschollen. Vermutlich wurden sie bei einer Umgestaltung des Lichthofs zerstört.
17 Der Verbleib des Werks ist unbekannt.
18 Max Burchartz (1887—1961) gehörte in den frühen Jahren der Weimarer Republik der künstlerischen Avantgarde an, gründete dann eine moderne Werbeagentur und arbeitete fortan vorwiegend als Gebrauchsgrafiker und Typograf. Von 1927 bis 1931 war er Professor für Typografie an der Folkwangschule Essen. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise wurde seine Stelle gestrichen. Nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus trat er verschiedenen NS-Organisationen bei und biederte sich mit mehreren Publikationen bei dem Regime an (z.B. Das Fest der Arbeit – Der erste 1. Mai im nationalen Deutschland, Essen 1933 und Soldaten – ein Bilderbuch vom neuen Heer, Hamburg 1935). 1937 trat er der NSDAP bei. Seine Malerei wurde in der NS-Zeit als „entartet“ diffamiert. Mit Kriegsbeginn meldete sich Burchartz (der schon als Frontsoldat den Ersten Weltkrieg erlebt hatte) freiwillig zum Heer. Das Kriegsende erlebte er in Paris, wo er seine kunsttheoretische Schrift Gleichnis der Harmonie verfasste, die 1949 veröffentlicht wurde. Diese und seine folgenden didaktischen Schriften hatten großen Einfluß auf H.J. Psotta.

Weitestgehend nach: Gerda Breuer (Hg.), Max Burchartz – 1887-1961, Künstler, Typograf, Pädagoge, Berlin 2010, passim.

Zur Mitgliedschaft in der NSDAP: BArch 3200 (ehem. BDC), Burchartz, Max, 28. Juli 1887, Aufnahmedatum: 1. Mai 1937, Mitgliedsnummer: 4470609.

19 Heinrich Lützeler (1902—1988) gilt als deutscher Hauptvertreter des Renouveau catholique. Er war entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Schon im Jahr 1931 geriet er in eine Kontroverse um den nationalsozialistischen „Chefideologen“ Alfred Rosenberg. Seine fachliche Kritik an Rosenberg wurde vom Bonner Ortsgruppenführer des „Kampfbundes für deutsche Kultur“, Eugen Hollerbach, mit übelsten persönlichen Angriffen beantwortet. „Wir haben es längst geahnt“, schreibt Hollerbach im Westdeutschen Beobachter vom 18. Juli 1931, „daß die Krüppel keine Helden sind. Aber je zwergenhafter ein Mensch entwickelt ist, umso anspruchsvoller erhebt er sein Haupt.“ An anderer Stelle bezeichnet Hollerbach Lützeler als „Schädling“, „Zwerg“ und „getarnten Alberich“. Dazu muß man wissen, daß Lützeler von Geburt an schwer körperbehindert und aufgrund einer Wirbelsäulenverkrümmung von extremer Kleinwüchsigkeit war. Während der ganzen Zeit des Dritten Reichs war er ähnlichen Schmähungen ausgesetzt. 1936 wurde ihm die Erlaubnis für seine Arbeit beim Rundfunk entzogen. 1940 verlor er seine Lehrberechtigung (venia legendi). 1942 verbot man ihm die Arbeit als Schriftsteller, Verlagslektor und Redner. Seine Bücher kamen auf die Liste „nicht erwünschter Schriften“. Zudem lebte er bis zum Ende des Dritten Reichs unter ständiger Überwachung. Absurderweise wurden aber seine bis 1942 erschienenen Bücher in insgesamt 11 Sprachen übersetzt, in beträchtlicher Auflage gedruckt und zur Devisenbeschaffung ins Ausland verkauft.

Nach: Frank-Lothar Kroll, Intellektueller Widerstand im Dritten Reich – Heinrich Lützeler und der Nationalsozialismus, Berlin 2008, insbesondere S. 32f. und 37ff. (alle Zitate ebenda).

20 Börries von Münchhausen (1874—1945) war um die Jahrhundertwende bis in die Weimarer Republik hinein ein berühmter Balladendichter, der sowohl in der zionistischen als auch in der Jugendbewegung hohe Wertschätzung genoß. Er war Rassist und Antisemit, wurde gleich nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus in die „gesäuberte“ Akademie der Deutschen Dichtung berufen und unterzeichnete mit 87 weiteren Schriftstellern und Dichtern im Oktober 1933 u.a. das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler. Er wußte von der Existenz der Konzentrationslager, zog aber auch scharfe Angriffe auf sich, indem er sich 1937 für einige verfemte Dichter einsetzte. Ebenso förderte er den „entarteten“ Maler Konrad Felixmüller mit Aufträgen. Beim Einmarsch der Russen nahm er sich das Leben. H.J. Psotta faszinierte vor allem die allgegenwärtige Todesnähe in seiner Dichtung, sowie (unbewußt) ihre oft homoerotischen Inhalte. Von seinem Leben im Dritten Reich wußte H.J. Psotta zu diesem Zeitpunkt nichts.

Weitestgehend nach: Hans Sarkowicz, Alf Mentzer, Literatur in Nazi-Deutschland, Hamburg, Wien 2000, S. 287-290.

21 Zum Lehrpersonal der Essener Folkwangschule gehörte beispielsweise der Bildhauer Adolf Wamper. H.J. Psotta lernte ihn nur am Rande seiner Ausbildung kennen. Als er kurz nach Erscheinen des Buchs Kunst im Dritten Reich – Dokumente der Unterwerfung (Frankfurt am Main 1974) darin Wampers nationalsozialistische Propagandaplastik Genius des Sieges erblickte, konnte er kaum glauben, daß es sich bei dem Autor um denselben freundlichen und unscheinbaren Mann handelte, der nach dem Krieg beispielsweise das Essener Grillo-Theater mit seinen harmlos anmutenden Engelsfiguren ausstattete.
22 Die Mutter von Ruth Johow war kurz zuvor verstorben.
23 Lili Schultz (1895—1970) war 1958 von der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt. Zuvor hatte sie seit 1925 an der Burg Giebichenstein in Halle gelehrt. Als H.J. Psotta um die Jahrtausendwende von ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP erfuhr, war er ebenso enttäuscht wie empört. Lili Schultz hatte – wie so viele – nie ein Wort über die NS-Zeit verloren. Ihr Biograf Heinrich Ragaller versucht sie mit einem „Persilschein“ zu entlasten und findet – nebenbei bemerkt – für die Repression in der DDR weit härtere Worte als für die NS-Zeit. (1) Tatsächlich war Schultz aber sicher mehr als eine einfache Mitläuferin. Als einzige Bauhaus-Schülerin (sie hatte zwei Semester in Weimar studiert) wurde sie 1933 nicht entlassen. (2) Sie fertigte gleich nach der Machtübernahme Ehrenbürgerbriefe und Schmuckschatullen für verschiedene offizielle Anlässe an (Ehrenbürgerschaft für Hindenburg, Hitler und Göring) (3) und in einem Artikel von 1937 heißt es: „Und wenn man von all den Arbeiten hört, die aus Lili Schultz` Werkstatt hervorgegangen sind – Arbeiten für den Führer, für Göring, für Heß und Goebbels und Frick, für Sven Hedin und andere große Persönlichkeiten – dann freut man sich doppelt mit der Meisterin, daß dieses uralte schöne Handwerk nun wieder und gerade bei uns in Halle zu einer neuen Blüte gebracht worden ist.“ (4) Eine eingehende Untersuchung über ihre Rolle im Dritten Reich steht noch aus. Ebenso fraglich ist, ob die Repression in der DDR in Zusammenhang mit ihrer NS-Vergangenheit stand.

(1) Heinrich Ragaller, Die Emailkünstlerin Lili Schultz, in: Museum für Angewandte Kunst der Stadt Köln (Hg.), Farbe und Metall – Kunst aus dem Feuer, Köln 1991, S. 42; zur DDR S. 43-46; zur NS-Zeit vor allem S. 39 und 42.

(2) Angela Dolgner, Zurück zum Handwerk. Die Burg zwischen 1933 und 1945, in: Staatliche Galerie Moritzburg Halle, Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design, Halle (Hg.), Burg Giebichenstein – Die hallesche Kunstschule von den Anfängen bis zur Gegenwart, Halle, Karlsruhe 1993, S. 39.

(3) Mitteldeutsche Nationalzeitung, Halle, Nr. 279, 29. November 1933, S. 11; Saale-Zeitung, Halle, Nr. 168, 21. Juli 1934, S. 3; siehe auch: Werner Piechocki, Roland Kuhne, Gemeinsinn soll Früchte tragen – Die Verleihung der Ehrenbürgerschaft durch die Stadt Halle, in: Ralf Jacob (Hg.), Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte 2006, Halle 2006, S. 159 und 161.

(4) Rita-Sophie Eilers, Bei der Meisterin des Emails – Besuch in der Werkstatt von Lili Schultz auf Burg Giebichenstein, in: Mitteldeutsche Nationalzeitung, Halle, Nr. 265, 26. September 1937, Beilage Der Sonntag, S. 5.

Zur Mitgliedschaft in der NSDAP: BArch 3200 (ehem. BDC), Schultz, Elisabeth, 21. Juni 1895, Aufnahmedatum: 1. Mai 1937, Mitgliedsnummer: 4167708.

24 Brief von Lili Schultz an den Direktor der Peter-Behrens-Werkkunstschule, Hans-Georg Lenzen vom 19. September 1968, Archiv HJP.

Woher der „rassische“ Wortgebrauch stammt, erklärt wohl Fußnote 23.

25 Die ursprüngliche Fassung behauptete, dass H.J. Psotta den Wettbewerb gewann. Dies war die von H.J. Psotta selbst kolportierte Version, die aber falsch ist. Siehe auf dieser Website: El Verbo Divino.
26 Adolfo Winternitz (1906-1993) stammte aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Wien. 1938 konvertierte er zum Katholizismus. 1939 emigrierte er nach Lima und wurde wenig später Gründer und Leiter der dortigen Academia de Arte Católico. Eher als Mittel zum Zweck nahm H.J. Psotta 1980 eine Berufung an die Universidad Católica del Perú (Lima) an, wo Winternitz Direktor der Escuela de Artes Plásticas war. Schnell geriet er mit ihm – vor allem wegen seiner autoritären Art und Weise – in Konflikt. Nach einer einsemestrigen Lehrtätigkeit verließ H.J. Psotta die Universität und gründete mit seinen Schülern Raúl Avellaneda und Sergio Zevallos die Grupo Chaclacayo, die wenig später eine aufsehenerregende Ausstellung im Kunstmuseum Lima veranstaltete und anschließend unter Terrorismusverdacht geriet. Mehrfach wurde ihr Haus von Militärs durchsucht und belagert. 1988 wurde die gesamte Produktion der Gruppe nach Deutschland ausgeflogen und dort unter dem Titel Todesbilder – Peru oder Das Ende des europäischen Traums präsentiert.

Siehe dazu: Künstlerhaus Bethanien (Hg.), Grupo Chaclacayo – Todesbilder – Peru oder Das Ende des europäischen Traums, Berlin 1989.

Zu Adolfo Winternitz: Pontificia Universidad Católica del Perú, Leopold Museum (Hg.), Winternitz – Ein Österreicher in Peru, Wien 2006.

27 Auch diese auf den Angaben H.J. Psottas basierende Darstellung ist nicht ganz richtig. H.J. Psotta bemühte sich selbst, eine Möglichkeit der Lehre in Chile zu erhalten. Eine in Chile lebende Verwandte von Ruth Johow sondierte die Möglichkeiten und setzte sich für H.J. Psotta ein. Natürlich war die Qualität der Fensterentwürfe eine wesentliche Grundlage, doch der Prozess stellt sich anhand der Briefwechsel im Nachlass doch weniger einseitig und insgesamt komplexer dar.
28 Neue Ruhr-Zeitung, Ausgabe Kreis Dinslaken, Nr. 269, 17. November 1962, S. 9.
29 Bottroper Volkszeitung, Nr. 10, 12./13. Januar 1963, S. 11.
30 Sergio Larraín Garcia Moreno (1905—1999) studierte Architektur in Santiago de Chile, reiste nach Europa und nahm Kontakt zum Bauhaus in Weimar (Klee, Kandinsky, Albers) und u.a. zu den Architekten Walter Gropius, Le Corbusier und Mies van der Rohe auf. Seit 1952 lehrte er als Professor und Dekan an der Architekturfakultät der Pontificia Universidad Católica de Chile. Er gehört zu den bedeutendsten Architekten der chilenischen Moderne.

Nach: Bibliotheka Museo Nacional de Bellas Artes — Artistas Plásticos Chilenos (APCh), URL: http://www.artistasplasticoschilenos.cl/biografia.aspx?itmid=1631 (5. August 2012); Wikipedia (4. September 2021).

31 Dies ist eine Verdichtung, die sich nicht ganz so zugetragen hat, da ein Brief davon berichtet, daß H.J. Psotta seine Entwürfe erst einige Tage nach seiner Ankunft zu Gesicht bekam. Ob seine Erinnerung trügte oder er die Ereignisse und Erfahrungen dramaturgisch zuspitzte, halte ich nicht für wesentlich, war letzteres doch auch Teil seines Berufs. Mir erscheint es nur richtig, offen mit diesen (und allen) Widersprüchen umzugehen, um falsche Mythenbildung zu vermeiden, die H.J. Psotta meiner Ansicht nach nicht nötig hat. (9/2021, A.B.).