H.J. Psotta: Die Fahrten des Odysseus, (Archaische Balladen), Detail, Santiago de Chile 1963, Gouache auf Papier
Helmut J. Psottas Serie Archaische Balladen gehört zu den frühesten Arbeiten seines ersten Chileaufenthalts (Januar 1963–Juli 1967). Die 9 Blätter entstanden allesamt 1963, vermutlich im ersten Halbjahr. Anläßlich einer Ausstellung von 5 dieser Blätter (studio im hochhaus, Berlin), schrieb Psotta im August 2011 diesen begleitenden Text (hier leicht gekürzt):
H.J. Psotta: Magnificat, (Archaische Balladen), Detail, Santiago de Chile 1963, Gouache auf Papier
von Helmut J. Psotta
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Nach langer Seereise kam mein Schiff Anfang 1963 im Hafen von Valparaiso an — man fuhr mich sogleich im Auto in gleißendem Sommerlicht über die Berge nach Santiago, dort wurde ich im reichen Hause meines Gastgebers unerwartet konfrontiert mit Picasso, Matisse, Dufy etc.[1]Es handelt sich um das Haus des Architekten Sergio Larraín García-Moreno.
Europa hatte mich in unüberbietbarer Qualität wieder eingeholt — abends dann in verwirrender subtropischer Kühle und Dunkelheit ging es in die Anden zu den Mönchen nach Las Condes, die mich in einer Klosterzelle mit einigen meiner eigenen Arbeiten überraschten — vor dem Fenster erhob sich die mächtige Silhouette des Aconcagua-Gebirges.[2]H.J. Psotta hatte sich die vorläufige Unterbringung in einem Benediktiner-Kloster erbeten. Die hier erzählte Verdichtung stimmt nicht ganz: ein Brief verrät, daß er die eigenen Arbeiten (seine … Continue reading An diesem extremen Tag begann ein endloser Traum — mein ›amerikanischer‹ Traum, aus dem ich, so glaube ich heute, nie wirklich mehr aufzuwachen imstande war.
Mein neuerbautes Institut an der Universität war fast fertig, ich konnte bald einziehen, sammelte die ersten Student*innen meines Lebens um mich und begann innerhalb sehr kurzer Zeit mit der ununterbrochenen Arbeit an einem Bilderzyklus, der in wenigen Wochen weiter anwuchs, als hätte ich eine magische Droge zu mir genommen (später nannte ich die Serie Archaische Balladen).
Es war im Grunde der Versuch, mich von vergangenen Lebensepochen unwiderruflich zu verabschieden, zugleich langsam von meiner Jugend —
Der Hahn erzählte mir von wunderlichen früheren Kindheitserlebnissen, die nicht verblassen durften,
dann inspirierte mich der Text der biblischen Apokalypse noch einmal, die Erscheinung des Menschensohnes vor dem geistigen Auge des Sehers Johannes auf Patmos zu gestalten, mit lichtumfluteten Gesicht, Füßen aus glühendem Erz und allen Attributen jüdischer Mystik (es war das erste Aquarell, das in Chile entstand und dem viele andere folgen sollten) —
oder die feierliche Vision des Weihefestes Chanukka, mit Tempelzelt, Tanzinstrumenten und dem achtarmigen Leuchter der Makkabäer.
Allmählich näherte ich mich nach intensiver Lektüre den Legenden und Mythen meines neuen Kulturraumes an, der verschlüsselten Poesie der Quechua, die sich in der grandiosen Landschaft ringsherum in kosmischer Kindlichkeit widerzuspiegeln schienen…
Ich erinnere mich noch genau: als ich das Blatt über den Traum (wie immer er inhaltlich beschaffen gewesen sein mag) beendete, wußte ich, daß es seit der Ankunft in Valparaiso, nach wochenlangem Überqueren des Ozeans, wo in wenigen Stunden das Tor zu meinem Unbewußten weit aufgestoßen wurde, kein zurück in das Grau meiner biografischen Herkunft geben konnte.
H.J. Psotta: Leichenbegängnis (Archaische Balladen), Detail, Santiago de Chile 1963, Gouache auf Papier
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Von Grau kann wirklich nicht die Rede sein. Vier weitere Bilder der Serie waren nicht ausgestellt.
Das Magnificat, ein altes Marienlied, ist laut Dietrich Bonhoeffer »das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde«[3]Hier zitiert nach Wikipedia.. Es bietet Anknüpfungspunkte sowohl zur Feministischen Theologie als auch zur Befreiungstheologie. H.J. Psotta wird sich diesem Themenkomplex noch mehrfach zuwenden.
Die Fahrten des Odysseus hingegen wendet sich dem Homerschen Epos zu, wobei der Titel dem berühmten Film von 1954 entnommen ist, den H.J. Psotta sicherlich gesehen hatte.
Der Geheimen Offenbarung des Johannes entspringt auch Der apokalyptische Drache:
Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual bei der Geburt. Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor die Frau, die gebären sollte, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind fräße.
Offenbarung 12,1–4
Wiederum auf einer Kindheitsbeobachtung beruht das Leichenbegängnis. Dabei handelt es sich um die Eindrücke eines Begräbnisses auf dem Gahlener Friedhof, auf dem er später selbst bestattet wurde. 2014 hatte ich dieses Bild, mit der Musik von Lili Boulanger (die auch während seiner Begräbniszeremonie gespielt wurde), zu einem Film verarbeitet, mein Requiem für Helmut:
H.J. Psotta: Der Hahn (Archaische Balladen), Detail, Santiago de Chile 1963, Gouache auf Papier
Anmerkungen
↑1 | Es handelt sich um das Haus des Architekten Sergio Larraín García-Moreno. |
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↑2 | H.J. Psotta hatte sich die vorläufige Unterbringung in einem Benediktiner-Kloster erbeten. Die hier erzählte Verdichtung stimmt nicht ganz: ein Brief verrät, daß er die eigenen Arbeiten (seine Fensterentwürfe) erst einige Tage später sah. |
↑3 | Hier zitiert nach Wikipedia. |